>>Wissen Sie denn, daß Sie mich für lange Zeit mit mir selbst versöhnt haben? Daß ich über mich niemals mehr so schlecht denken werde wie bisher? Daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber grämen werde, aus meinem Leben ein Verbrechen und eine Sünde gemacht zu haben, – denn ein solches Leben ist Verbrechen und Sünde! Glauben Sie nur nicht, daß ich irgend etwas übertrieben habe, um Gottes willen, glauben Sie nur das nicht, Nastenka! Weil es Augenblicke gibt, wo mich solcher Gram, so unbeschreiblicher Gram verzehrt … Weil es mir in solchen Augenblicken vorkommt, daß ich nicht mehr fähig sei, ein wirkliches Leben zu leben; weil ich schon oft glaubte, jeden Takt, jeden Sinn für das wahre, wirkliche Leben verloren zu haben; weil ich mich oft verdammt habe; weil nach meinen phantastischen Nächten Augenblicke der Ernüchterung kommen, die wahrhaft schrecklich sind! Und dabei muß ich hören, wie rings um mich die Menschen toben und sich im Strudel des Lebens drehen; muß hören und sehen, wie Menschen leben, wie sie ein wirkliches, greifbares Leben leben, daß ihnen das Leben offen steht, daß es ihnen nicht wie ein Traumgesicht entschwebt, daß es sich ewig aus sich selbst erneut und verjüngt, daß keine Stunde dieses Lebens einer andern gleicht, – während meine scheue Phantasie so schal und eintönig ist, Sklavin eines Schattens, einer Idee, der ersten besten Wolke, die plötzlich die Sonne verdeckt und das Herz mit Wehmut erfüllt, das echte Petersburger Herz, dem seine Sonne soviel bedeutet, – und was wird erst aus der Phantasie, wenn mich einmal Wehmut erfüllt! – Ich fühle, wie sie schließlich ermattet, wie sich die »unerschöpfliche« erschöpft; denn man wächst ja innerlich, und die alten Ideale werden einem zu eng: sie zerfallen in Staub und Trümmer. Und wenn man kein anderes Leben hat, so muß man es eben aus diesen selben Trümmern bauen. Doch die Seele sehnt sich nach etwas anderem! Vergebens wühlt der Träumer wie in Schutt in seinen alten Träumen und sucht in ihrer Asche nach einem wenn auch noch so schwachen Fünkchen, um es anzufachen und mit dem neu entzündeten Feuer sein erkaltetes Herz zu erwärmen, um in ihm alles wiederzuerwecken, was ihm einst so teuer war, was die Seele rührte, das Blut in Wallung brachte, Tränen in die Augen trieb und so wunderbar trügte! Wissen Sie, Nastenka, wo ich angelangt bin? Wissen Sie, daß ich bereits Jahrestage meiner Empfindungen feiern muß, Gedenktage dessen, was mir einst so lieb war und was in Wirklichkeit niemals existierte, – meine Gedächtnisfeiern beziehen sich doch immer auf die gleichen einfältigen, wesenlosen Träume – und daß ich das tun muß, weil ich selbst diese einfältigen Träume nicht mehr habe, weil ich nichts habe, womit ich sie nähren kann, denn auch Träume müssen genährt werden? Wissen Sie, daß ich jetzt gern an bestimmten Tagen jene Stellen aufsuche, wo ich einst auf eine eigene Weise glücklich gewesen bin, daß ich meine Gegenwart oft auf das unwiederbringlich Vergangene abstimme und ganz ohne Not und Ziel, traurig und vergrämt durch die Petersburger Straßen und Gassen irre? Und was sind das auch für Erinnerungen! Da erinnere ich mich zum Beispiel, daß ich genau vor einem Jahr, an diesem selben Tag und zu dieser selben Stunde auf diesem selben Trottoir ebenso einsam und traurig gegangen bin wie heute! Ich erinnere mich, daß meine Gedanken auch damals schon traurig waren; und wenn ich sogar weiß, daß ich es auch damals nicht besser hatte, so kommt mir doch vor, als wäre mein Leben damals besser und ruhiger gewesen, als hätte ich damals weder die düsteren Gedanken gekannt, die mich jetzt verfolgen, noch die schmerzhaften Gewissensbisse, die mir jetzt Tag und Nacht keine Ruhe geben. Und zuweilen muß ich mich fragen: Wo sind denn deine Träume? Und ich schüttele den Kopf und sage: Wie schnell vergeht doch die Zeit! Und dann frage ich mich wieder: Was hast du mit deinen Jahren gemacht? Wo hast du deine beste Zeit begraben? Hast du gelebt oder nicht? Sieh nur, sag ich zu mir selbst, wie kalt es in der Welt wird! Noch einige Jahre, und dann kommt die traurigste Einsamkeit, kommt mit der Krücke das zitterige Alter, und mit ihnen Gram und Leid. Deine phantastische Welt wird verblassen, deine Träume werden absterben, verwelken und abfallen wie das gelbe Laub von den Ästen … Ach Nastenka! Es ist so traurig, allein, ganz allein zu bleiben und nicht einmal etwas zu haben, was man beweinen könnte, nichts, gar nichts! … Denn alles, was man verloren hat, war eigentlich nichts, eine absolute Null, ein Hirngespinst!«
Белые ночи, Fjodor Dostojewski